Lesetipp: Reichtum ohne Leistung
Die Abzockerdebatte, welche die skandalösen Einkommensunterschiede thematisiert, könnte vergessen machen, dass sich bei den Vermögen eine noch grössere Kluft auftut, nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern auch zwischen dem Mittelstand und den Reichsten. Sie hat ein Ausmass erreicht, das den Verhältnissen im Feudalismus des Ancien Régime nahe kommt.
Die Schere geht auf Hans Kissling, bis 2006 Chef des Statistischen Amtes des Kantons Zürich, hat dazu eine politökonomische Streitschrift verfasst. Sie zeigt z.B., dass im Kanton Zürich die reichsten zehn Steuerpflichtigen gleich viel besitzen wie zwei Drittel aller Steuerpflichtigen. Die grossen Vermögen, die teilweise erst in den zurückliegenden Jahrzehnten der Hochkonjunktur angehäuft wurden, werden in den kommenden Jahren auf die nächste Generation vererbt werden.
Vier neue Milliardäre pro Jahr Hans Kissling hat berechnet, dass in der Schweiz in den nächsten dreissig Jahren im Durchschnitt jedes Jahr vier Personen mehr als eine Milliarde Franken erben werden. Die Vererbung solch grosser Vermögen wird dazu führen, dass künftig die höchsten Einkommen bei den reichen Erben anfallen werden und nicht (mehr) bei den Selfmade-Unternehmern oder den Managern. Der so genannte Leistungswettbewerb wird so mehr und mehr in Frage gestellt.
Argumente für eine Erbschaftssteuer Die Studie zeigt auch, mit welchen Massnahmen die Politik Gegensteuer geben könnte. Zum Beispiel mit einer gesamtschweizerischen Erbschaftssteuer mit einem ähnlich hohen Steuersatz wie z.B. in den USA (gegen 50%) und einer hohen Freigrenze, z.B. 1 Million Franken pro Erbe, was für die politische Akzeptanz wichtig wäre. Der auf jährlich mindestens 5 Milliarden Franken geschätzte Ertrag einer solchen Bundeserbschaftssteuer könnte hälftig auf den Bund und die Kantone verteilt werden, womit eine solche Steuer auch im Interesse der Kantone läge.
Hans Kissling: Reichtum ohne Leistung. Die Feudalisierung der Schweiz. Rüegger, 2008, Fr. 26.-
Buchtipp in der französischen Version des Info 19:Bernard Maris: Antimanuel d’économie 1 - les fourmis, 2003 und 2 - les cigales, 2006, éditions Bréal, 21 C-
Bernhard Maris ist Professor an der Universität von Paris VIII und begabter Kolummnenschreiber zu wirtschaftlichen Themen. In den zwei Bänden liefert er eine gut lesbare, kritische und erfrischende Analyse der Mechanismen, die unser wirtschaftliches System regieren.